Medien- und Computerspielsucht bei Kindern und Jugendlichen [Interview]

Woran erkennt man, dass Kinder eine Medien- oder Computerspielsucht entwickeln? Die Psychotherapeutin Julia Dier erklärt im Interview, wie Eltern ihren Kindern zur Seite stehen können und welche Regeln man einhalten sollte.

Zwei jugendlichen Burschen spielen enthusiastisch am PC
Spiele- und Medienkonsum. Foto: Adobe Stock

Computerspiele und Social Media bieten, als Ausgleich und Ergänzung zu anderen Freizeitaktivitäten, viele positive und nützliche Aspekte. In einer digitalisierten Welt ist es jedoch für alle eine Herausforderung geworden, das rechte Maß in der Nutzung digitaler Geräte zu finden.
Bei der Nutzung digitaler Medien und Geräte haben Eltern gegenüber ihren Kindern eine wichtige Vorbildfunktion, so die Psychotherapeutin Julia Dier. Wie viele Jugendliche in Österreich mediensüchtig sind und was Eltern bei ihren Kindern in puncto Screentime beachten sollten, erfahren Sie im Interview.

Medien- und Computerspielsucht: ein Interview

Gibt es ein empfohlenes „Einstiegsalter“ für digitale Medien? Also ein Alter, vor dem Kinder am besten gar keine Inhalte auf Tablets oder Smartphones anschauen sollten?
Julia Dier: Ja, das gibt es. Kinder unter drei Jahren sollten moderne digitale Medien gar nicht benutzen. In diesem Alter sind Bilderbücher pädagogisch sinnvoll, da die Geschwindigkeit der sinnlichen Eindrücke durch das Umblättern und Vorlesen individuell angepasst werden kann. Die meisten Unterhaltungsvideos, wie sie für größere Kinder gemacht werden, sind für so kleine Kinder noch viel zu schnell. So weit die Theorie. Im Alltag schaut das Ganze natürlich oft anders aus. Oft gibt es größere Geschwister, die bestimmte Videos schon schauen dürfen, und so kommt auch das kleinere Kind zwangsläufig mit dieser Welt in Kontakt. Wichtig ist, dass immer ein Erwachsener dabei ist, wenn kleine Kinder digitale Medien konsumieren. Und dass man immer mit den Kindern darüber spricht, was sie gerade gesehen haben, zum Beispiel, wenn sie eine Szene als gruselig empfinden.

Tipp

Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch den Beitrag: „Handyspiele für Kinder: Was Erziehungsberechtigte beachten müssen“.

Wie weit verbreitet sind schwere psychische Probleme unter Kindern aufgrund von zu viel oder falschem Konsum von Digitalmedien oder Computerspielen?
Dier: Je nach Land und Studie liegen dazu unterschiedliche Zahlen vor. Manche Studien kommen auf Ergebnisse von bis zu fünf Prozent der Kinder. Mir persönlich kommt diese Zahl sehr hochgegriffen vor. Ich würde den Anteil der Kinder, die unter einer echten Medien- oder Computerspielsucht leiden, deutlich niedriger schätzen. Aber eine zumindest „problematische Nutzung“ von Digitalmedien und Onlinespielen finden wir bei sehr vielen Menschen – bei Kindern und Jugendlichen genauso wie bei Erwachsenen. Man muss auch dazusagen, dass gerade die Schulpflicht die Entwicklung von schweren Süchten hemmt. Denn in die Schule müssen die Kinder nun einmal gehen, und so werden sie zumindest für einen Teil des Tages von den digitalen Geräten zu Hause ferngehalten.

Wann spricht man bei Kindern von einer Sucht in Bezug auf Medienkonsum oder Computerspiele? 
Dier: Die Suchtmerkmale sind durchaus vergleichbar mit jenen bei substanzgebundenen Süchten. Ein klassisches Merkmal ist der soziale Rückzug. Die betroffenen Kinder oder Jugendlichen vernachlässigen ihre sozialen Beziehungen, sie vergessen ihre Hobbys, denen sie davor mit Freundinnen und Freunden nachgegangen sind. Auch die Schule tritt komplett in den Hintergrund. Das Medium bekommt einen enormen Stellenwert, die Kinder wollen am liebsten ihre gesamte Zeit damit verbringen, und es fällt ihnen extrem schwer, sich auch nur einen Moment von dem Ding zu trennen.

Ein typisches Suchtverhalten ist auch, dass sich der gesamte Alltag nur noch darum dreht: Wann und wie komme ich an meine nächste „Dosis“? Es baut sich dabei auch eine Toleranz auf, ganz ähnlich wie etwa bei Alkoholsucht. Das heißt, das Kind braucht das Computerspiel oder den Medienkonsum immer länger und immer öfter, um sich zufriedenzustellen. Das wären von außen betrachtet erste Warnsignale einer Sucht.

Sie selbst arbeiten als Psychotherapeutin viel mit Kindern. Wie kann die Psychotherapie einem Kind mit Medien- oder Computerspielsucht helfen?
Dier: Zunächst einmal finden die Kinder, die zu mir kommen, hier einen Raum vor, der komplett abgeschirmt von ihrem sonstigen Leben ist. Nichts von dem, was sie mit mir besprechen, dringt nach außen. Ich darf es selbst den Eltern nicht weitererzählen. Das ist für die Kinder tatsächlich sehr wertvoll. Mit der Zeit erzählen sie dann über sich und ihre Probleme, oft auch sehr viel. Und ich versuche herauszufinden, wo die Ursachen für ihre Suchtproblematik liegen könnten – vielleicht in der Schule, vielleicht zu Hause. Viele Kinder leiden auch darunter, dass ihre Eltern Probleme haben oder gerade eine Trennung durchmachen, und ziehen sich deshalb zurück in eine andere Welt.

Welche psychischen Probleme treten bei Kindern mit Mediensucht typischerweise auf?
Dier: Das ist ein Henne-Ei-Problem, denn bei vielen Kindern lässt sich nicht ganz genau sagen, ob ihre Probleme durch das Computerspielen und den Medienkonsum entstanden sind oder ob es umgekehrt ist: also dass die Medien eine Flucht vor bereits existierenden Problemen sind. Besonders gefährdet für Medien- und Computerspielsucht sind introvertierte und ängstliche Menschen sowie Menschen, die ADHS [Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Anm. d. Red.] haben.

Ich stelle fest, dass viele betroffene Kinder auch Opfer von Ausgrenzung und Mobbing in der Schule sind. Was mir außerdem auffällt, ist eine Zunahme von ganz grundlegenden Kommunikationsschwierigkeiten bei Kindern in den letzten Jahren. Viele der Kinder, die zu mir kommen, haben nie gelernt, wie man ein Gespräch führt. Sie finden dadurch auch keinen sozialen Anschluss, lernen nie, wie man Freundschaften pflegt.

Gibt es gewisse „goldene Regeln“ bei der digitalen Medienerziehung, an die sich Eltern halten können?
Dier: Die allerwichtigste Regel ist, selbst ein Vorbild zu sein. Die Eltern sollten versuchen, ihre eigene Mediennutzung zu reflektieren und sie gegebenenfalls beschränken, besonders vor den Kindern. In den meisten Fällen, die mir begegnen, spiegelt nämlich das Kind zu einem gewissen Grad auch einen übermäßigen Medienkonsum oder andere Probleme der Eltern wider.

Außerdem ist es wichtig, sich mit dem Kind auf Regeln im Umgang mit den verschiedenen Geräten zu einigen – am besten schon von klein auf, ab dem Kindergartenalter. Man legt also eine fixe Computerzeit pro Tag fest, oder man sagt, so und so viele Spieldurchgänge darfst du machen.

Man könnte hier zum Beispiel auch Dinge basteln, die diese Mediennutzung sichtbar und verhandelbar machen. Also etwa ein Brett mit kleinen Magnetsteinen, auf denen Figuren aus Serien oder Spielen von „Peppa Pig“ bis „Fortnite“ draufkleben. Jeder Stein steht dann für eine Spieleinheit. Ganz entscheidend sind zudem medienfreie Zeiten, wo alle, also auch die Eltern, ihre Handys und Tablets weglegen. Das ist gerade beim gemeinsamen Essen ganz entscheidend. Da dürfen sich dann auch die Eltern keine individuellen Ausnahmen zurechtlegen, wenn einmal ein spannendes Skirennen im Fernsehen läuft oder ähnliches. Hier sollte man seinen Kindern Vorbild sein. Auch vor dem Schlafengehen und im Kinderzimmer selbst ist es ratsam, keine digitalen Medien mehr zu konsumieren.

Tipp

Warum reduzierte Screentime die Schlafhygiene verbessern kann, erfahren Sie in folgendem Interview:

Wir haben bis jetzt eher über kleinere Kinder gesprochen. Welchen Rat können Sie Eltern geben, die bei ihren jugendlichen Kindern eine problematische Nutzung von digitalen Medien feststellen?
Dier: Ab dem Ende der Schulpflicht kommt tatsächlich eine schwierige zusätzliche Dynamik ins Spiel: Kinder, die Gefahr laufen, eine Sucht zu entwickeln, müssen dann vom Gesetz her nicht mehr in die Schule gehen, können also theoretisch den ganzen Tag zu Hause bleiben und sich im Computerspiel verlieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele dieser Jugendlichen auch in der Therapiesituation nur mehr sehr schwer zu erreichen sind. Hier ist es aus therapeutischer Sicht sinnvoller, mit den Eltern zu arbeiten und gemeinsam Pläne und Lösungswege zu entwickeln.

Unerlässlich ist das Ziehen von Grenzen. Oft beobachte ich, dass diese Jugendlichen das elterliche Zuhause wie eine „Rundumversorgung“ in Anspruch nehmen und die Eltern auf diese Weise das suchtartige Verhalten des Kindes indirekt mitermöglichen. Das sollte nicht passieren. Dem Kind Grenzen im Verhalten zu setzen, ist ein wichtiges Erziehungselement, das aber natürlich nicht erst im Jugendlichenalter zum Einsatz kommen sollte. Schon kleinen Kindern muss man vermitteln, dass es Dinge gibt, die sie nicht oder nur in bestimmtem Ausmaß tun dürfen.

Es gibt verschiedene technische Kinderschutz-Einstellungen am Computer oder am Smartphone. Oder auch Apps, mit denen Eltern kontrollieren können, was die Kinder auf deren Geräten wann getan oder angeschaut haben. Wo ist da die Grenze der persönlichen Freiheit des Kindes überschritten?
Dier: Derartige Überwachungs-Tools machen meist nur bei Kindern unter zehn Jahren Sinn. Selbst in dieser Altersgruppe kenne ich viele, die längst durchschaut haben, wie sie die Überwachung austricksen oder den Kinderschutz umgehen können. Bei Kindern über zehn Jahren hat das individuelle Überwachungs-Tool sowieso fast keinen Effekt mehr. Denn das Kind hat dann von Jahr zu Jahr mehr Möglichkeiten, sich selbst mehr „Screentime“ zu verschaffen – beim Sitznachbarn in der Klasse oder bei Freundinnen und Freunden nach der Schule.

Viel wichtiger als technische Tools ist aber ohnehin die persönliche Abmachung zwischen Eltern und Kind. Ebenso wichtig ist eine Beziehung aufrechterhalten wird, in der über konsumierte Inhalte gemeinsam gesprochen werden kann.

Wünschen Sie sich vom Gesetzgeber bestimmte Maßnahmen, um der Medien- oder Computerspielsucht bei Kindern besser vorbeugen zu können?
Dier: Ich persönlich würde ein gesetzliches Handyverbot in allen Schulen bis zur achten Schulstufe befürworten. Das bedeutet nicht, dass man digitale Medien nicht sinnvoll im Unterricht einsetzen sollte. In den letzten Jahren ist aber unter den Schülerinnen und Schülern dieser Altersgruppen ein Gruppenzwang in Bezug auf Smartphone-Nutzung, soziale Medien und Computerspiele entstanden, den ich äußerst bedenklich finde. Kinder, die ihrem Alter entsprechend noch kein Handy haben und zu Hause Medien nur beschränkt konsumieren dürfen, fühlen sich dann in der Schule erst recht ausgeschlossen.

Hinweis

Über mögliche Auswirkungen des exzessiven Konsums von digitalen Medien erzählt Roland Mader, Primar des Anton Prokschs Instituts, im folgenden Interview:

Letzte Aktualisierung: 16. September 2024

Für den Inhalt verantwortlich: A-SIT Zentrum für sichere Informationstechnologie – Austria